Ihr kennt alle den Holunder, den geheimnisvollen Busch, der als erster im Frühjahr den winterkahlen Wald mit seinen zarten grünen Trieben schmückt – ein Versprechen auf Rückkehr des Frühlings. Im Mai zieren die duftenden Blütenteller die Waldränder wie feinste Spitze. Der Holunder beschenkt uns mit seinen sternengleichen Blüten, die wir schon seit Urzeiten für köstliche Speisen und heilsame Rezepturen einsetzen. Wir alle lieben den Saft der geheimnisvollen dunklen, fast schwarzen Beeren, die im Spätsommer in dem bunten Laub erglühen.

 

Ein Busch, der so heilsam ist wie dieser, und schon seit Menschengedenken für seine vielfältigen Geschenke verehrt wird, ist schon früh zum Gegenstand von Legenden und wundersamen Geschichten geworden. Es ranken sich unzählige Bräuche um den Holunder, die zeigen, wieviel Respekt die Menschen vor ihm hatten. Man glaubte beispielsweise daran, dass die alte Muttergöttin, Holda, ihren Wohnsitz in diesem Busch hatte. So wagte es niemand, diesen Busch ungefragt zu beschneiden oder gar zu entfernen.

 

All dies und vieles mehr scheint in Vergessenheit geraten zu sein, und doch zögert manch Unwissender, bevor er einen alten knorrigen Hollerbusch entwurzelt, ganz so, als würde er die Stimmen seiner Ahnen hören, die ihn warnen. Wenn man sich heute unter einen Holunder setzt, die Augen schließt und sich ganz mit der Umgebung und dem Busch verbindet, sich einwurzelt und sich innerlich austreckt, kann es sein, dass einem die Anderswelt ein Märchen schenkt. Denn der Holler ist auch ein Schwellenbaum zwischen Vergangenheit und Zukunft und zwischen dieser und der Anderswelt. Auf einem meiner Waldspaziergänge lud mich ein Hollerbusch zum Verweilen ein und teilte diese bezaubernde Geschichte mit mir, die ich nun an Euch weitergeben möchte.

 

Es lebte einmal eine kleine Familie inmitten eines dicken Waldes. Der Vater ging jeden Tag zur Jagd, oder zum Holzsammeln hinaus, und die Mutter kümmerte sich um Haus und Garten. Ihre beiden Töchter halfen ihrer Mutter oder spielten im Wald. Die Ältere, Rosa, hatte großes Interesse an Kräutern und wich ihrer Mutter nicht von der Seite, wenn diese sich mit dem Sammeln und Verarbeiten von Heilkräutern beschäftigte. Sie sog alles wie ein Schwamm auf und wuchs zu einer wahren Heilkräuterexpertin heran.

 

Die jüngere Tochter, Anna, liebte die Tiere und schlich ihnen nach, beobachtete sie und half ihnen, wenn sie verletzt waren. Ihre Mutter zeigte ihr, mit welchen Heilmitteln sie ihre Verletzungen behandeln konnte, und ermutigte sie bei ihrer liebevollen Fürsorge. Die Tiere, die Anna aufgepäppelt hatte, wichen ihr auch danach lange nicht von der Seite. Und sollte das Wilde in ihnen sie doch wieder in den Wald rufen, würden sie stets zu ihrer lieben Helferin zurückkehren, um nach ihr zu sehen.

 

Anna verstand die Wildnatur der Tiere, weil sie selbst etwas sehr Wildes in sich trug. Sie blieb gerne für sich und ließ eigentlich nur ihre Eltern und Rosa an sich heran. Sie liebte nichts mehr, als lange vor Sonnenaufgang in den Wald zu gehen. In den frühen Morgenstunden waren die meisten wilden Tiere ebenfalls im Wald unterwegs, und Anna kannte inzwischen ihre Spuren und wanderte ebenfalls auf den Pfaden des Wildes.

 

Einmal, als Anna unterwegs war, hörte sie ein leises Fiepen. Es war so zart, dass sie es beinahe überhört hätte. Auf leisen Sohlen und mit gespitzen Ohren folgte sie den verzweifelten Tönen. Schließlich fand sie den Verursacher. Es war ein kleines flauschiges Eulenkind, das aus dem Nest gefallen war. Mit großen kugelrunden Augen schaute es zu ihr, und über sich hörte sie das Rufen der Eulenmutter. Sie verstand, nahm ihr Halstuch ab, setzte das Kleine hinein und kletterte dann mit ihrer federleichten Last auf den Baum, um es zurück in seine Höhle zu setzen. Die Eulenmutter beobachtete sie aus sicherer Entfernung und dankte ihr mit einem freundlichen Gurren.

 

Zufrieden und glücklich, dass sie hatte helfen können, kehrte Anna zu ihrem Zuhause zurück. Am folgenden Morgen fand sie auf ihrem Fensterbrett eine Feder aus feinstem Gold. Diese hängte sie sich an einem Band um den Hals und trug sie fortan an ihrem Herzen. Während der folgenden Nächte geschah nichts Außergewöhnliches. Sie beobachtete die Wildschweine bei ihrer Suche nach Trüffeln, war verzaubert vom Anblick einer Ricke mit ihren Zwillingskindern, schaute belustigt den ersten Flugstunden der Eulen zu.

 

So flog die Zeit dahin, bis der Herbst kam und es Zeit war für die Hirsche, ihren neuen König zu küren. Dazu wurde erbittert gekämpft, und der Sieger würde der König für das kommende Jahr werden. Anna kannte die Kampfplätze, und wenn es ihre Zeit erlaubte, nahm sie einen Beobachtungsposten in einem der Bäume in der Nähe ein und verfolgte das unglaublich spannende und kraftvolle Schauspiel.

 

In diesem Jahr hatten die Kämpfe schon früh begonnen, und in einer der ersten Runden war ein junger unerfahrener Hirsch von einem alten so übel verletzt worden, dass er sich in eine Höhle zurückgezogen hatte. Anna hatte ihn dabei beobachtet, war vom Baum herabgestiegen, hatte Moose, Flechten und Heilkräuter gesammelt und war ihm gefolgt. Sie wusste, dass verletzte Tiere auch gefährlich werden konnten, und so näherte sie sich ihm mit beruhigenden Worten. Dieser Hirsch war zu schwach, um gefährlich zu werden und ließ sich ohne Widerstand von ihr versorgen.

 

Einige Tage kehrte sie regelmäßig zur Höhle zurück und legte ihrem Patienten neue Verbände an, bis er wieder aufstehen konnte und zu neuen Kräften gekommen war. Sie wusste, dass er nun allein zurechtkommen würde, als er sie am Eingang der Höhle erwartete. Er ließ sich von ihr den Verband abnehmen, schaute ihr mit seinen dunklen Augen in die ihren, schnaubte einmal und lief dann in den Wald hinaus. Froh kehrte auch Anna nach Hause zurück, wo sie am folgenden Morgen auf ihrem Fensterbrett ein winziges Hirschgeweih, aus demselben Gold wie das der Eulenfeder, fand. Auch dieses hängte sie sich um den Hals und trug es fortan mit sich.

 

Auf einem weiteren Streifzug durch den Wald entdeckte sie ein Eichhörnchen in Nöten. Eine seiner Krallen hatte sich in einer Spalte zwischen zwei Rinden so unglücklich verkantet, dass es sich nicht allein befreien konnte. Anna konnte ihm helfen und dankbar keckernd flitzte es vergnügt seiner Wege. Anna musste noch am Abend schmunzeln, denn Eichhörnchen waren einfach nur bezaubernd niedlich. Am Morgen nach der Rettung lag auf Annas Fensterbrett eine Nuss aus reinem Gold. Und auch diese hängte sie sich um den Hals.

 

Mitten im tiefsten Winter erkrankte plötzlich ihre Schwester Rosa. Sie war innerhalb weniger Tage in einen tiefen Schlaf gefallen, der von starken Fieberschüben begleitet wurde. Was auch immer ihre Mutter ihr einzuflößen versuchte, konnte das bewusstlose Mädchen nicht bei sich behalten, ohne sich fürchterlich zu verschlucken. Sie wurde immer schwächer und die Familie befürchtete schon das Schlimmste. Da hatte Anna einen Traum. Sie träumte von der Hollermutter, die tief unter der Erde lebte und dort an einer Quelle saß. Mit einer goldenen Kelle schöpfte sie Wasser aus ihr und streckte es der Träumenden entgegen. Als Anna von diesem Traum erzählte, erinnerte sich ihre Mutter an eine alte Sage, die sie als Kind gehört hatte.

 

Diese Sage erzählte von einer mutigen jungen Frau, die zur Holle gereist war, um dort das Wasser des Lebens für ihren todkranken Vater zu holen. Sie hatte durch einen Holunderbusch unter die Erde klettern müssen und noch zwei weitere Hindernisse überwinden müssen, um zur Hollermutter zu gelangen. Was das für Hindernisse waren, wusste die Mutter nicht mehr. Am Ende jedoch war alles gut, und sie konnte tatsächlich das Wasser des Lebens für ihren Vater schöpfen und ihn retten.

 

In dieser Nacht träumte Anna wild und lebendig davon, dass sie zur Hollermutter reiste und für ihre Schwester das Wasser des Lebens holte. Noch vor Sonnenaufgang erwachte sie davon, dass jemand sie sanft an der Schulter rüttelte und flüsterte: “Heute ist die Nacht, das Wasser zu holen.“ Als Anna die Augen öffnete, war dort niemand. Ohne zu zögern machte sie sich auf den Weg, lief auf den Pfaden des Wildes, bis sie irgendwann ein leichtes Brennen unter ihrem Hemd spürte. Als sie nachschaute, glühte die goldene Eulenfeder. Anna zog sie unter ihrem Hemd hervor und staunte, wie hell es auf einmal war.

 

Das Leuchten ließ auch einen Holunderbusch in ihrer Nähe erkennen, der kahl und still aus dem Schnee ragte. Anna nährte sich ihm und erkannte, dass einer der Äste abgebrochen war und einen Hohlraum in Form einer Feder offenbarte. Sie griff nach ihrer Feder und legte sie in das exakt gleich geformte Astloch, und schon ging ein Beben durch den Busch, die Schneedecke brach auf und gab einen Spalt frei, der groß genug für das Mädchen war. Als sie genauer hinschaute, erkannte sie eine irdene Treppe, die in die Tiefe führte. Langsam stieg sie hinab, die leuchtende Feder in der Hand, damit sie in der Dunkelheit die Füße richtig setzte.

 

Unten angelangt führte ein langer Gang in Richtung eines Lichtes. Achtsam und vorsichtig bewegte sie sich vorwärts, bis das Strahlen vor ihr so intensiv wurde, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. An ihrem Herzen spürte sie abermals eine starke Wärme, und als sie danach tastete, hielt sie das kleine Geweih in den Händen. Sie zog es hervor und hielt es schützend vor sich. Kaum, dass sie das getan hatte, verblasste das Strahlen und vor ihr stand auf einer unterirdischen Wiese ein weißer Hirsch, das Reittier der Hollermutter.

 

Das prachtvolle Tier kam nun langsam auf sie zu, schnupperte an ihrer ausgestreckten Hand, auf der das kleine goldene Geweih lag. Ohne zu zögern hängte Anna ihm das goldene Geweih um den Hals. Danach stupste der Hirsch Anna sanft an der Schulter an, schnaubte und wendete seinen Kopf in Richtung seines Rückens. Eine weiche Decke aus dickem rotem Samt war über seinen Rücken gebreitet und lud zum Aufsitzen ein. Anna nahm Schwung und sprang auf den Rücken des Hirsches. Kaum, dass sie saß, flog das Tier auf unsichtbaren Schwingen in die dunkle Weite des Hollenreiches. Eine Weile flogen sie so durch die Lüfte und alles sauste an Anna vorbei, bis der Hirsch seinen Flug verlangsamte und schließlich sanft auf einem schneebedeckten Feld landete.

 

Anna stieg behutsam ab und klopfte dem Hirsch dankend den Hals, was er mit einem Schnauben beantwortete. Dann verneigte er sich vor ihr, wandte den Blick zu einem Garten ganz in der Nähe, der von einer sehr hohen Eibenhecke umgeben war, und flog dann wieder davon. Anna sah ihm noch ein Weilchen nach und ging dann zu dem Tor und schaute durch die schön geschwungenen eisernen Verzierungen hinein. In diesem Garten war Frühling und überall standen Apfelbäume in der vollen Blüte. Mädchen in zarten weißen Gewändern tanzten unter den Apfelbäumen. Ein feiner Duft nach Blüten wehte zu ihr herüber. Sie griff nach der Klinke, um das Tor zu öffnen, doch es war verschlossen.

 

Zu ihren Füssen vernahm sie mit einem Mal eine raue Stimme. „Hallo Menschenkind! Was willst Du denn von der Hollermutter?“ Als sie runterschaute, stand dort ein Zwerg mit einem langen Bart, einer roten Nase und einer griesgrämigen Miene. Anna errötete und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Als sie sich wieder gefasst hatte, antwortete sie: „Ich habe mich auf den Weg zur Hollermutter gemacht, weil meine Schwester sterbenskrank ist und ihr nur noch das Wasser des Lebens helfen kann.“ „So, so. Was bist Du denn bereit dafür zu geben, damit  ich Dir diese Tür öffne?“ Anna war ratlos, war sie doch mit leeren Händen gekommen. Da spürte sie unter ihrem Hemd wieder dieses Brennen, tastete danach und holte die Nuss hervor. Die Augen des Zwerges leuchteten auf, und er streckte seine Hand nach der Nuss aus: „Oh ja, das ist ein guter Tauschhandel!“

 

Kaum, dass Anna dem Zwerg die Nuss übergeben hatte, öffnete er ihr das schwere Tor, damit sie eintreten konnte. Sie ließ die Kälte hinter sich und trat unter die blühenden Apfelbäume. Sogleich kamen einige Mädchen herbeigeeilt und nahmen sie freundlich in Empfang. Fröhlich lachend begleiteten sie sie zur Hollermutter, die auf einem edel geschnitzten Thron saß und an einem Spinnrad einen feinen silbernen Faden spann. Aus gütigen Augen schaute sie Anna an und sprach: „Nun, mein Kind. Sei gegrüßt. Hast Du den Weg schließlich doch gefunden.“

 

Als Anna niederkniete, spürte sie die sanfte Hand der Hollermutter auf ihrem Kopf, die einen wärmenden Segen spendete, der bis in ihr Herz drang. Dann griff sie nach Annas Händen, um sie hochzuziehen. „Komm Kind, setzte Dich zu mir!“ Sie wies auf einen zart geflochtenen Stuhl an ihrer Seite. „Ich kenne schon den Grund für Deine Reise, und ich will Dir gerne helfen. Doch zunächst trink etwas und nimm dir von meinen Küchlein.“ Anna nahm sich dankbar einen Becher mit einem duftenden Tee und griff nach einem Holunderblütenküchlein. So etwas Köstliches hatte sie noch nie gegessen, und sie hatte sich nach einem Essen noch nie so gestärkt und lebendig gefühlt.

 

Anschließend erhob sich die Holle und nahm Anna mit zu einer kleinen Lichtung, in dessen Mitte eine Quelle aus dem Waldboden sprudelte. ´Ganz so, wie in meinem Traum,` dachte Anna. Die Hollermutter holte aus den Falten ihres sternenbesetzten Gewandes eine goldene Kelle, kniete nieder und schöpfte Wasser. Ein Mädchen kam herbei und reichte ihr einefeine kristallene Phiole, die die Holle mit dem Wasser befüllte. Es sah fast so aus, als würden Sterne in dem Wasser tanzen. Dann reichte sie Anna die Phiole und legte ihre Hände segnend über die ihren. „Nun eile heim und rette Deine Schwester.“ Nach diesen Worten wurde es ganz hell um Anna und sie fiel in einen tiefen Schlaf.

 

Als sie wieder erwachte, lag sie in ihrem Bett und war enttäuscht, da sie glaubte, abermals nur geträumt zu haben. Dann wandte sie den Blick zu ihrem Nachttisch, auf dem sie die Phiole entdeckte. Als nächstes griff sie sich an die Brust, um nach ihren kostbaren Anhängern zu suchen. Doch auch die waren verschwunden. So war es wohl doch kein Traum gewesen? Eine Weile dachte sie noch nach, und dann raffte sie sich auf, um in das Zimmer ihrer Schwester zu eilen. Diese lag immer noch bleich und fiebernd in ihrem Bett. Ihre Eltern standen mit tiefbesorgten Gesichtern an Bett ihrer Tochter und nickten Anna leise zu.

 

Die Phiole fest in der Hand, trat Anna zu ihrer Schwester, beugte sich zu ihr herunter und flüsterte: „Ich habe Wasser des Lebens von der Hollermutter bekommen. Nun wird alles gut.“ Sie zog den Korken aus der Phiole und benetzte vorsichtig die Lippen ihrer Schwester mit dem Wasser. Dann warteten alle drei gespannt auf eine Regung, die auch bald geschah. Rosas Wangen bekamen wieder Farbe, ihre Hände bewegten sich, so als suchten sie etwas. Als Anna ihre Hände ergriff, öffnete Rosa die Augen, und es war so, als würde die Sonne in dem schummrigen Zimmer aufgehen. Freudig und zutiefst berührt umarmten sanken alle am Bett nieder und umarmten einander. Anna trat leise vor die Tür ihrer Hütte und flüsterte: „Danke!“

 

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